Bernburger Hefte

Kleinode im Poesiealbum – private Samisdat- oder staatliche Auftragsarbeit?

Auf Initiative von Rudolf Müller, der in Bernburg u.a. "Müllers Antiquariat" betrieb, entstanden in den 80er Jahren die in Sammlerkreisen sogenannten "Bernburger Hefte".
Ausgewählte Hefte des Poesiealbums wurden mit einer zusätzlichen Original-Grafik (neues Motiv in unterschiedlicher Technik) des jeweiligen Heft-Künstlers auf dem innereren Titelblatt (S. 1) versehen.
Auf S. 2 wurden diese Hefte mit einem eigens gestalteten und gedruckten Zettel (Entwurf durch den Grafiker Gerhard Tag aus Berlin), der eingeklebt wurde, als Ausgaben der "Bernburger Bibliophilen-Boutique" ausgezeichnet, auf dem die jeweilige Edition und die Exemplar-Nr. handschriftlich vermerkt sind.
Der künstlerische Leiter dieser Liebhaber-Edition war Ulrich Tarlatt - selbst auch Gestalter der 1. Sonderausgabe, der die Kontakte zu seinen Grafiker-Kollegen herstellte und bei der Produktion der Sonderausstattung mittätig war, die aber insgesamt von Müller realisiert und finanziert wurde.

 

Über die Motivation zur Herausgabe dieser Sonderedition gibt Müller an, aus kulturellem Interesse im Dialog mit Tarlatt zur Unterstützung von Künstlern neben zahlreichen örtlichen Veranstaltungen im Volksbuchhandel und dem Kulturhaus der Stadt auf die Idee zur künstlerischen Aufwertung der profanen Hefte gekommen zu sein. Dagegen vermutet Tarlatt nach Kenntnis seiner Stasi-Akte, daß Müller als IM der Staatssicherheit bemüht war, Kontakte in die Kunstszene der DDR zu erlangen, was ihm Tarlatt auf diese Weise nebenbei ermöglichte.
Unabhängig von dieser eventuell dubiosen Triebkraft entstanden von 1982 bis 1984 neun Ausgaben mit exklusiv nur für diesen Zweck geschaffenen und verwendeten Grafiken in einer Auflage von nur je anfangs 40 Expl. (später 35) folgender Hefte:

- 1982  6 Hefte (173, 174, 176, 179, 180, 182)
- 1983  2 Hefte (193, 194)
- 1984  1 Heft (198)

 

1. Edition
Heft 173
Edgar Lee Masters
 
2. Edition
Heft 174
Klaus-Peter
Schwarz
 
3. Edition
Heft 176
Rimma Kasakowa
 
4. Edition
Heft 179
Kathrin
Schmidt
 
5. Edition
Heft 180
Guyla
Illyés
 
6. Edition
Heft 182
Iwan
Goll
 
7. Edition
Heft 193
Hans-Eckardt Wenzel
 
8. Edition
Heft 194
Claes
Andersson
 
9. Edition
Heft 198
Ralph Grüneberger
 
 

Grafik von
Ulrich Tarlatt (Bernburg)

 

Grafik von Frieder Heinze (Leipzig-Börtewitz)

 

Grafik von Heidrun Hegewald (Berlin-Karow)

 

Grafik von
Uwe Pfeifer (Halle/S)

 

Grafik von
Tai Nuh (Leipzig)

 

Grafik von Günther Huniat (Leipzig-Stötteritz)

 

Grafik von Manfred Butzmann (Berlin)

 

Grafik von Rainer Schade (Leipzig)

 

Grafik von
Thea Kowar (Schwerin)

oT
Holzschnitt auf Achat-Papier

rücks.signiert
U Tarlatt 82

Auflage 40
oT
Farbsiebdruck auf Kunstdruck-
papier
signiert
Heinze 83

Auflage 40
War es dieser?
Radierung


signiert Hegewald 82

Auflage 40
Ecke und Papierkorb
Zinkografie

signiert
Pfeifer 82

Auflage 35
Zwei Figuren
Farbholzschnitt
auf Ingres-Bütten
signiert
Tai Nuh 82

Auflage 35
A und O
Farbholzschnitt
auf Fleece-
Papier
signiert
G Huniat 82

Auflage 35
Schild
Radierung


signiert
M.Butzmann 84

Auflage 35
oT
Radierung


signiert
Schade 83

Auflage 35
Vom ungläu- bigen Thomas
Holzschnitt

signiert Thea Kowar 1984

Auflage 35
 

 

Nach Angaben von Antiquar Müller will er die normalen Hefte im örtlichen Buchhandel bestellt und bezogen haben, was angesichts der organisatorischen Limentierung und Kontigentierung der Hefte durch den staatl. Großhandel LKG seltsam anmutet. Nach aktuellen Recherchen will weder das Lektorat noch der Verkauf des Verlags Neues Leben in das Vorhaben involviert gewesen sein, bzw. kann sich daran erinnern.
Wenige Hefte sind zu DDR-Zeiten nur als Privat-Geschenke von Müller vergeben worden, erst nach der Wende sind weitere Hefte über einige Antiquariate in den Verkauf gelangt (gegenwärtig antiquarisch idR. um 50 €).

Das Ende der Serie erklärt Müller mit dem Entzug der zunächst unbefristet erteilten Genehmigung durch den Verlag nach Erscheinen der Grafiken von Schade und Kowar, die durchaus als "systemkritisch" zu interpretieren waren.

Eine Kurzfassung der Umstände in den ›Marginalien‹ (2020/1, Heft 236) erbrachte keine erhofften Ergänzungen, weshalb der Märkische Verlag weiterhin über ergänzenden Mitteilungen dankbar ist.